Geschichte der Philosophie und Paedagogik

Dienstag, 14. März 2006

...

Sehen

Ich laufe beständig
und atme ganz tief
ein seltsames Ziehen im Bauch

Ich schließe die Augen
und atme ganz tief
das Leben zieht mich durch das Land

Der Weg ist lang
und mitnichten leicht

Trotzdem
Ich versuche
ein vorsichtiges Lächeln
halb Hoffnung
halb Trauer

Ich will


Versuchung

Er sucht
Er versucht
Er hat sich versucht

Er braucht
Er verbraucht
Er hat sich verbraucht

Er findet
die Sucht

Er braucht
unbedingt

Sehnsucht

Ich laufe beständig
Er sucht
und atme ganz tief
Er versucht
ein seltsames Ziehen im Bauch
Er hat sich versucht

Ich schließe die Augen
Er braucht
und atme ganz tief
Er verbraucht
das Leben zieht mich durch das Land
Er wird verbraucht

Der Weg ist lang
Und mitnichten leicht

Trotzdem
Er findet
Ich versuche
ein vorsichtiges Lächeln
die Sucht
halb Hoffnung
halb Trauer

Ich will
Er braucht
unbedingt

Dienstag, 24. Januar 2006

wie anders

diese freude
diese freiheit
diese sehnsucht
dieses himmelhochjauchzen
dieses irgendwie
auf dem weg sein
zu dir
dieses dich halten
und für dich da sein
ganz und gar
manchmal
es allein schon zu denken
wie anders
kann ich das alles nennen
ausser: liebe

kein grund
mich zu verrennen
oder zu verbiegen
aber darüber nicht
ins stammeln und stolpern
zu geraten
ist schwer
doch wie anders
kann ich mit all dem leben
wenn es ist was es ist
eben: liebe

Liebesbrief an das Leben

Wer war zuerst da- das Leben oder die Liebe?
Vielleicht die Liebe zum Leben. Und jeden Tag, jede Stunde und Minute gibt es neue Liebesbeweise:
Der Geruch des Regens, Farben, Lachfalten, der Eiszapfen vor meinem Fenster, mein Bett, Schokoladeneis, wilde Kaninchen auf dem Weg zur Uni, das erste Mal im Leben einen Fasan in freier Natur sehen, SMS-Bekommen, über die man sich freut, Freunde, Photos, Barfusslaufen, Schlafen, komisch geformte Steine, Erinnerungen an die Kindheit, Kunst, ein winziges rotes Auto mit einem riesigen Tannenbaum auf dem Dach festgeschnallt, zwei Schildkröten die über den Fussboden marschieren, Bücher, das Meeresrauschen, Träume, Aufregung, Musik, heißer Glühwein in kaltem Schnee, Gänseblümchen, Sonne auf der Haut, Gesichter von Menschen, Martini, Wale, Regenbogen, Mangotee, Formen, kleine unwichtige Dinge, die man durch Zufall auf der Straße findet, Kitsch, Freiheit, Nudeln, Intensität, Feuerschein, Lachen, so doll, dass der Bauch wehtut, Küsse, Sterne, Wasser in all seinen Formen, Vorfreude, ein Telefon, Hamburg, Geräusche, Felsen, etwas schaffen, Urlaub, jemanden wiedersehen, Geschenke basteln, Ausstrahlung...

und man merkt, dass das Leben viel zu kurz ist um ihm all die Liebe wiederzugeben, die es wert ist.

Sonntag, 15. Januar 2006

Nicht mehr allein.

Sie ging die Strasse entlang, völlig in Gedanken versunken. Vorbei an den randvollen Mülleimern,den halb abgerissenen Plakatwänden und zertrümmerten Fahrradrahmen, die trotz ihres Zustandes immer noch an Regenrohren und Laternenpfählen angeschlossen waren. Unbeachtet blieben auch die Leute, die gelangweilt an Türrahmen oder aus Fenstern lehnten und darauf hofften, dass endlich mal etwas passierte. Langsam vor sich hertrottend bog sie zwischen den trostlosen Häuserzeilen in den kleinen Sandweg ein, der als Abkürzung zur nächsten U-Bahn-Station diente.
Irgendetwas war heute anders. Das hatte sie schon beim ersten Schritt in die kleine Strasse bemerkt. Aber was? Alles war wie immer, sah aus wie immer, roch wie immer...fühlte sich bloß anders an. Sie fühlte sich anders. Als wäre sie ein Teil von etwas, was ihr jedoch verborgen blieb. Der Sand unter ihren Füssen knirschte und kleine, spitze Sandkörner sprangen gegen ihre Knöchel, explosionsartig, wie kleine Geschosse. Was war bloß los?
In diesem Moment rutschte sie, alles ging so schnell, doch trotzdem kam es ihr so langsam vor, wie endlose Minuten der Ungewissheit. Was geschah da gerade?
„Wie kann das sein? Da war doch gar nichts. Absolut nichts.Wieso falle ich?“
Aus den Augenwinkeln sah sie ihn: Starre, abstrakte Stacheln, die in unnätürlichen Zickzack-Bögen auseinanderstrebten, silbern, glitzernd, dazwischen ein dicker, hölzernder Knauf. Nasser, abgewetzter Stoff schaukelt leicht im Luftzug, klebt an den Stacheln, verheddert, verknotet, in Fetzen. Wie ein Skelett. Und ihr Auge im Fallen so kurz davor. Gleich wird es aufgespiesst, spitz und schneidend kommen die Stacheln näher, schmerzhaft und verletzend sehen sie sie an, fast hämisch.
Doch nichts dergleichen geschieht. Weich und warm fällt ihr Körper auf den Boden, eingebettet in Sand liegt sie wie in einem Bett, gemütlich aber unwirklich fühlt es sich an, einladend zu bleiben, nicht mehr aufzustehen. Sie blickt sich um. Er ist nicht mehr da, keine Stacheln mehr, wie weggezaubert. War er überhaupt da? Aber überall dieser weiche Sand. Wunderschön. Bezaubernd. So hatte sie Sand noch nie gesehen, noch nie gefühlt. Er ist so vertraut, so warm, so anschmiegsam. So hilfreich. Denn eigentlich war sie so allein. Allein mit ihren Gedanken. Allein mit ihrem Leben. Jetzt gerade war das anders. Dieses Gefühl war weg. Er war da. An ihrer Seite. Für sie da. Immer. Überall.
Tröstend das zu wissen. Sie war nicht mehr allein. Nie mehr. Und bleibt liegen. Lässt sich fallen. In ihn.
Umgeben.
Umarmt.
Umgarnt.
Von Sand.

Sonntag, 8. Januar 2006

Spiegelung

Jeden Morgen begegnet uns das Wunder der Existenz, das wir gar nicht mehr wahrzunehmen scheinen. Jeden Augenblick ereignet es sich, aber nur wenige schauen dem Wunder je ins Auge.
Der Ausdruck „ins Auge schauen“ ist eigentlich sehr schön. Dem Augenblick ins Auge zu schauen, so wie er ist, ihn so zu sehen, wie er ist, ohne etwas hinzuzufügen , ohne etwas wegzunehmen. Ohne jegliche Korrektur: ihn einfach so nehmen, wie er ist. Wie ein Spiegel.
Ein Spiegel kann nicht korrigieren, zum Glück. Sonst würde wahrscheinlich kein einziges Lebewesen dieser Welt seinen Ansprüchen genügen, einfach weil er sie zerstören würde, wenn er anfangen würde sie zurechtzustutzen, sie zu korrigieren, ihnen etwas hinzuzufügen.
Aber kein Spiegel ist zerstörerisch. Wie schön ist selbst der hässlichste Spiegel, weil er nichts zerstört. Er spiegelt nur.
Doch genau das ist es ja, was oft so schwer zu ertragen ist. Dieses „ledigliche Widerspiegeln“. Es führt uns auf unmissverständliche Art und Weise vor Augen, was wir wirklich sind, wie wir wirklich sind. Einfach so, ohne Ausschmückung.
Wie oft spiegeln wir uns, gewohnheitsmässig, ohne uns darüber bewusst zu werden, dass dies die einzige Möglichkeit ist, den Moment, unseren Moment, unser momentanes Dasein zu sehen, genau wie es ist, belanglos und doch unendlich wichtig für uns.
Vor kurzem sah ich ein Plakat, auf dem stand:

Die Wildgänse
haben nicht die Absicht,
sich im Wasser zu spiegeln.
Das Wasser
hat nicht die Absicht,
ihr Bild widerzuspiegeln.

Im ersten Moment erschien mir dies völlig belanglos. Trotzdem liess es mir keine Ruhe und ich fragte mich, was damit gemeint sein könnte. Inzwischen glaube ich, dass dieses Beispiel genau dafür eine Erklärung liefert: Die Wildgänse, die nicht die Absicht haben, sich zu spiegeln; und das Wasser, das auch gar nicht die Absicht hat, ihr Bild widerzuspiegeln- und doch ist eine Spiegelung da. Niemand hat es gewollt, und doch ist es da.

Was wollen sie bloss?

Da stehe ich nun, in diesem kleinen, engen Raum, vollgestopft mit lauter Sachen, die nicht mehr gebraucht werden, Kisten, Schuhkartons, Plastiktüten und Kleiderstangen, vollgehängt bis zum Bersten. Vor mir allerdings ist ein freier Platz, von der Tür aus geht man direkt auf mich zu, ideale Lichtverhältnisse sind auch gegeben. Denn ich, ja, ich werde gebraucht. Jeden Tag, manchmal sogar mehrmals, kommen sie auf mich zu, unschlüssig, abschätzend, kritisch. Manchmal sind sie schnell wieder weg, werfen nur einen kurzen Blick in meine Richtung, gehetzt und voller Stress. An anderen Tagen bleiben sie länger, mal erfreut, mal traurig, nerven mich regelrecht mit ihrer Anwesenheit.
Und erst die Sonne. Sie schwärmen von ihr, scheinen in Sonnenzeiten ihr Aussehen zu verändern, treten mir ganz anders gegenüber, freizügig, offener und irgendwie auch entspannter. Aber wehe mich trifft ein Sonnenstrahl. Dann verändert sich alles, sie blinzeln mit ihren Augen, verziehen ihre Gesichter zu unbeschreiblichen Grimassen, verdecken sie mit ihren Händen und eilen zum Vorhang, ganz so, als wäre mein Anblick unsagbar schrecklich, nicht auszuhalten. Und schon finde ich mich im elektrischen Lampenlicht wider, ohne Sonne, aber sie sind immer noch da.
Aber hat eigentlich schonmal jemand mich gefragt? Wie es für mich ist, wenn sie immer vor mir stehen, aber durch mich hindurch zu gucken scheinen? Was sich für Szenen vor meinen Augen abspielen, ohne dass ich gefragt werde? Was ich für Anblicke ertragen muss? Einfach so, ohne dass sie mal an mich denken. Was wollen sie bloss von mir?
Anfangs habe ich mich gefreut, weil ich dachte, dass mir besonders intensive Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Habe sie aufmerksam angeschaut und gewartet. Bis ich bemerkte, dass es niemals um mich ging. Dass ich nur Mittel zum Zweck war. Dass es immer nur um sie ging. Sie ganz allein, immerzu, drehen wenden, zupfen, ziehen, lachen, weinen, ändern, schminken, bürsten, gelen, putzen, drücken, lieben, stylen, rasieren, pudern, cremen, schneiden, verwuscheln, wallen, zerren, kleiden, trällern, umarmen, trennen, zerstäuben, knautschen, toupieren, feilen, ausrupfen...
Und das alles mit mir, aber ohne mich...

Dienstag, 3. Januar 2006

Die Stadt-in-der-Stadt

Ich sitze am Strassenrand und beobachte das bunte Treiben um mich herum. Es ist seltsam, wie unterschiedlich Städte wirken können. Es gibt Städte und daneben Städte-in-Städten.
Für die Frau dort hinten zum Beispiel ist ihre Stadt geprägt von Strassen mit Boutiquen, Parfümerien und Schuhgeschäften. Sie ist gepflastert mit Hinweisen auf Rabattaktionen, Leuchtreklamen der neuesten Trends und Promotern, die schmackhafte Light-Zigaretten anpreisen während sie auf die abgefahrenste Party der heutigen Nacht aufmerksam machen. Die Frau kennt die Konditorei an der Ecke genauso wie den Feinkost-Supermarkt, besucht Szene-Cafes, Bars und Partys. Das ist ihre Stadt. Sie geht mal hier hinein, mal dort, lässt sich in den Menschenmassen treiben, zeitlos, ohne jegliche Eile, die Hände in den Taschen, darin fest umschlossen das lederne Portemonnaie, ihre Sicherheit, ihr Grund in der Stadt zu sein, ihre Aufenthaltsberechtigung.
Vor mir hält mit quietschenden Reifen ein Bus, schiebt sich zwischen mich und die Frau, die in den Massen verschwindet, fast untergeht. Meine Aufmerksamkeit gilt jetzt dem Busfahrer, der das bunte Treiben auf der Strasse kaum wahrzunehmen scheint. Alles, was er sieht ist die Menschentraube an der Haltestelle, ungeduldig, jederzeit bereit für eine Beschwerde, sei es wegen einer Verspätung oder eines zu abrupten Bremsmanövers. Haltestellen und Buslinien, das ist seine Stadt; Steigungen, Zebrastreifen und Kurven, ihre Magie liegt in der Schwierigkeit sie kommen zu sehen, im richtigen Moment zu bremsen, sie zu umfahren, unter jeder Bedingung, bei Hitze genauso wie bei Glatteis. Endhaltestellen, so vertraut und so voll Bedeutung, weil dort die Zeit bis zur Rücktour mit einer Zigarette mit den Kollegen überbrückt werden kann, der Bus endlich leer ist, der Feierabend winkt. Dort kennt er sogar die Tauben in den wenigen Bäumen, die den vorbeieilenden Passanten genausowenig auffallen wie die schwungvolle Verbreiterung der Strasse, belanglos und doch so wichtig.
Der Bus setzt sich wieder in Bewegung, der Fahrer verschwindet aus meinem Blickfeld, scheint meine Gedanken wegzuwischen, sie schweifen ab und verlieren ihn, obwohl ich versuchen wollte ihn zu speichern, ihn nicht in der Belanglosigkeit verschwinden zu lassen. Es gelingt mir nicht. Leider.
Ich sehe einen braun-gefleckten Mischlingshund, der aufgeregt zwischen den Menschen umherläuft, schnüffelt, sein Bein hebt. Die Stadt dieses Hundes ist aus Gerüchen gebaut. Die verschiedensten Urin-Aromen ziehen die Grenze eines bestimmten Reviers, jeder Geruch verbunden mit einer bestimmten Information. Die Luft ist voll von diesen Aromen, Signale, die der Hund so selbstverständlich hinnimmt wie wir ein Strassen-oder Hinweisschild, ohne langes Grübeln, einfach sehen, registrieren und weitermachen.
Schwanzwedelnd läuft der Hund jetzt zu seinem Herrchen, der mit dem Rücken an die Schaufensterscheibe des Juweliers gelehnt dasitzt, vor sich ein Plastikbecher mit einigen Münzen, neben sich eine Tüte mit den wenigen Habseligkeiten. Eine Frau bleibt vor den beiden stehen, ich glaube in ihr die Frau von vorhin zu erkennen, bin mir nicht sicher, zu belanglos schien unser Zusammentreffen gewesen zu sein, obwohl ich doch genau das nicht wollte. Die Frau sagt etwas, ein wenig verschämt, dreht sich weg und kramt eine Münze aus ihrem Portemonnaie, lässt sie in den Becher fallen und eilt dann davon. Zurück in ihrer Stadt, die sie für einen Moment verlassen hatte.
Freudig schüttelt der Mann den Pappbecher, sagt etwas zu seinem Hund und steht dann auf, blickt sich unschlüssig um, scheint zu überlegen und steuert dann auf eine Einfahrt zu, verschwindet darin und kommt nach kurzer Zeit zurück. Der Hund sitzt da, aufmerksam und irgendwie angespannt, die Tüte seines Herrchens neben sich. Beide gehen in die andere Richtung davon, scheinen die Menschen nicht zu bemerken, die ihnen kopfschüttelnd und empört auszuweichen versuchen. Dieser Mann hat keinen Blick übrig für die Geschäfte, die leuchtenden Schilder, Reklamen, die neueste Mode. Er nimmt sie nicht mal wahr, sie haben für ihn keinerlei Funktion. Wird nicht angesprochen von Promotern, bekommt keine Flyer, keine Probierhäppchen. Das ist nicht seine Stadt. Seine Stadt besteht aus den Unterschlupfen der Kumpels, die man um Geld anhauen und einen Schlafplatz mit ihnen teilen kann. Seine Stadt ist sein Hund, der treueste Gefährte, der so stillschweigend sein Schicksal teilt. Einfahrten, in denen man zum Pinkeln verschwinden kann, die Konditorei und der Feinkost-Supermarkt, die nach Ladenschluss manchmal Übriggebliebenes verschenken. Das Bushäuschen, das nachts wenigstens etwas Schutz bietet.
Ein kurzes Augenzwinkern, und Mann und Hund sind meinem Blickfeld entwichen, genauso in der Masse untergegangen wie all die anderen. Die Stadt hat sie verschluckt, sie sind weg, und mit ihnen ihre Stadt-in-der-Stadt.

Sonntag, 4. Dezember 2005

Ausgestorben

Unkraut wächst in meinem Garten. Viel Unkraut. Und Moos. Außerdem Brennnesseln.
"Unkraut gehört in keinen Garten." sagen die Leute.
Aber ich finde Unkraut sehr schön. Moos ist weich und pelzig und leuchtet in vielen verschiedenen Schattierungen. Und Brennnesseln mag ich auch, die Blätter und Blüten und den biegsamen, schlanken Stiel.
"Häßliche, dicke, schwarze Raupen kriechen auf deinem Unkraut herum. Stört dich das nicht?" sagen die Leute. Und: "Man müßte sie vergiften!"
Aber ich würde mein Unkraut mitsamt seinen Bewohnern niemals vergiften. Die Raupen sind zwar schwarz, aber ihre Haut ist gesprenkelt von winzigen weißen Pünktchen. Ihnen schmecken die Brennnesselblätter. Süß und saftig. Die dicken schwarzen Raupen essen und essen und essen. So viel, daß ihnen íhre Haut zu eng wird. Sie platzt auf, schält sich ab und darunter kommt eine neue schwarze Haut zum Vorschein. Die gleiche Farbe, nur weiter und geschmeidiger. Mehrmals geschieht das, schwarze Haut mit weißen Pünktchen.
Irgendwann passiert es dann: die kleinen weißen Punkte verwandeln sich in goldene, größere Punkte. Auch der schwarze Hautton der dicken Raupen verwandelt sich ins Gräuliche. Sie hören auf, auf meinem Unkraut herumzukriechen, werden lahmer und irgendwann hängen sie plötzlich regungslos in den dünnen Verästelungen der Brennnesseln. Seltsam geformte Körper, aschgrau und mit goldenen Pünktchen.
Tag für Tag hängen sie so im Unkraut. Leblos nach außen. Ohne Sicht nach innen. Und dann kommt der Augenblick, in dem sie sich öffnen. Wieder platzt die enge, rissige Haut. Langsam entfaltet sich eine kleine Gestalt. Breitet die Flügel aus, so voll leuchtener Farben. Flattert nervös auf der Stelle. Rot. Blau. Braun. Und goldene Punkte. Legt die Flügelspitzen aneinander und streckt die kleinen, zittrigen Fühler aus. Verharrt mehrere Sekunden regungslos auf dem saftig grünen Brennnesselblatt. Und fliegt dann hoch, mit weit geöffneten Flügeln.
Ein Schmetterling. Ein Pfauenauge.

Und was sagen die Leute?
"Seht ihr, stimmt ja gar nicht, daß immer behauptet wird, Pfauenaugen seien ausgestorben. Da fliegt ja einer."

Dienstag, 29. November 2005

Winzige Träumerei

"Kannst du dir vorstellen", sagt er, "dass wir alle nur geträumt werden?"
"Wie meinst du das?" frage ich.
"Naja", beginnt er, "es könnte ja sein, dass wir alle nur im Traum von jemandem existieren. Oder im Traum von etwas. Es muss ja nichtmal ein Mensch sein. Vielleicht ein sehr kleines Wesen. Winzig klein. So klein, dass es in einem Erdloch wohnt. Dort liegt es jetzt gerade und schläft. Dabei schnarcht es, sehr sehr leise. So leise, dass wir es wahrscheinlich überhören würden. Aber in seinem Kopf entsteht der Traum, unser Leben, unsere Welt, unsere Gedanken. Jetzt gerade träumt es von uns, von mir, wie ich dir diese Geschichte erzähle; und von dir, wie du so dasitzt und mich verwirrt anguckst."
"Wie meinst du das?" frage ich.
"Es träumt von uns." sagt er. "Deshalb sind wir hier. Deshalb kennen wir uns. Vielleicht gibt es uns eigentlich gar nicht zusammen. Nur in seinem Kopf, da sind wir zusammen. Sobald das Wesen wach wird, sind wir verschwunden. Alles, überhaupt alles ist weg. Es muss nur eine kleine Erschütterung über dem Erdloch entstehen, die dem winzig kleinen Wesen etwas Sand in die Nase rieseln lässt, es zum Niesen bringt und -HATSCHI- alle Traumbilder geraten durcheinander; lauter kleine Stücke purzeln durch seinen Kopf. Zuletzt sind dort nur noch Farben. Etwas Rot, viel Grün, auch Gelb und ein wenig Blau, und natürlich all die Farbtöne dazwischen. Nicht mehr ich und nicht mehr du. Wir sind verschmolzen zu Farben, die durch seinen Kopf wabern, denn es befindet sich in diesem Zustand zwischen Träumen und Aufwachen. Wird das winzige Wesen ganz wach, verschwindet alles."
"Das wäre aber sehr unangenehm", sage ich. "Es gibt doch noch so viel zu erledigen. Ich wollte auf jeden Fall noch Wale sehen und Schlittschuhlaufen lernen. Und eigentlich auch noch mit einem klapprigen Fahrrad durch Marokko fahren...Es wäre schrecklich, wenn das winzig kleine Wesen jetzt wach wird. Und alles nur wegen einer kleinen Erschütterung. "
"Naja", sagt er, "du würdest es ja schließlich nicht merken. Du würdest vielleicht ein Rot sein, oder ein Grün mit einer winzig kleinen Ecke Gelb. Und danach spürst du nichts mehr. Nicht mal ein Gedanke bleibt übrig. Vielleicht auch doch, das kommt auf das Wesen an."
"Aber das wäre doch schrecklich." sage ich.
"Mach dir keine Sorgen", sagt er,"in Träumen gibt es vielleicht keine Zeit. Eine Sekunde kann da wie hundert Jahre sein."
"So", sage ich, "aber..."
"Kein aber." sagt er und geht.

Dienstag, 22. November 2005

Photographie in Gelb

Alles, was ich sehe, wird auf einmal gelb. Gelb ist alles, worauf ich achte. Oder nichts ist gelb. Gelb ist das Kriterium, womit ich meine Umgebung beleuchte. Das Gelb fängt an meinen Blick zu dominieren. Kleinigkeiten, die ich sonst wahrscheinlich übersehen hätte, sehe ich nun, weil sie gelb sind. Ich fange an, mehr auf Farben zu achten. Fast nur noch auf Farben zu achten. Es verändert den Blick.
Ich photographiere etwas Gelbes. Es ist Moos. Aber Moos kann nicht gelb sein. Moos ist grün, in diesem Fall verblichenes, verdörrtes Grün. Kann verblichenes Grün gelb sein? Ich frage mich, ob andere Menschen Gelb genauso sehen wie ich. Sehen alle Menschen Farben gleich? Oder wird vielleicht das, was ich als gelb empfinde von anderen Menschen ganz anders, vielleicht sogar als rot wahrgenommen? Wer kann mit Sicherheit sagen, wie andere Augen sehen?
Wann ist etwas nicht mehr gelb? Die Ränder bzw. Schwellen zum Gelb sind fließend. War das eben schon orange? Ist blond gelb?
Ich komme nicht umhin, Ausschnitte mit gelb auf ihre Umgebung hin abzutasten. Um es interessanter zu machen, tastet mein Blick das Umfeld ab, sucht nach ungewöhnlichen Winkeln, um das Erkennen später vielleicht zu erschweren. Ich tue also etwas im Hinblick darauf, was ich später haben möchte. Ich schaffe es nicht, mich einfach nur auf das Gelb einzulassen.


Sie brachten einen Geist hierher, der nur zu vernehmen bereit war, was seiner Erwartung entsprach. Das ist das Mißliche, wenn man (wie es irgendwo heißt) nur sucht, was man bereits gefunden hat. Aber (wie es anderswo heißt) der Mensch ist absurd durch das, was er sucht, und groß durch das, was er findet, und nichts Kostbares, das er gefunden hat, hat er anders gefunden als dadurch, daß er mit dem Kopf dageghenstieß...

Paul Valery, Mon Faust

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deine beitraege sind wirklich total schoen
birteschafi - 7. Feb, 02:00
kommentar
ich liebe dich süße anna!!!
nomsen - 4. Feb, 21:42

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Zuletzt aktualisiert: 16. Mär, 12:26

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